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30.08.13: Forscher züchten gehirnartiges Organgebilde aus embryonalen und induzierten pluripotenten Stammzellen

Querschnitt eines vollständigen cerebralen Organoids mit verschiedenen Gehirnregionen.Österreichischen Forschern ist es erstmals gelungen, aus Stammzellen die frühen Entwicklungsstadien eines menschlichen Gehirns nachzubilden. Die Erkenntnisse der Forscher liefern wichtige Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung beim Menschen und erlauben es erstmalig, Erbkrankheiten des Gehirns an einer menschlichen Organkultur zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden kürzlich in dem Fachmagazin Nature veröffentlicht.

Wie das IMBA in einer Presseaussendung vom 28.08.13 zur Studie erläuterte, ist das menschliche Gehirn das komplexeste Organ, das die Natur hervorgebracht hat. Da sich die menschliche Gehirnentwicklung grundsätzlich von der in Tieren unterscheidet, ist es schwierig die Ausbildung dieses Organs in Tiermodellen zu untersuchen. Dem Stammzellforscher Dr. Jürgen Knoblich, Gruppenleiter und stellvertretender Direktor am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien und seinem Team ist es nun gelungen, die frühen Stadien der menschlichen Gehirnentwicklung in einem speziell entwickelten dreidimensionalen Organkultursystem nachzubilden. Für die Herstellung dieser sogenannten "mini brains" verwendeten die Forscher embryonale Stammzellen und induzierte pluripotente Stammzellen (iPS Zellen), die aus Patientengewebe gewonnen wurden.

Wichtige Einblicke in entscheidende Prozesse der menschlichen Gehirnentwicklung

Die Wissenschaftler konnten dem Bericht zufolge zeigen, dass Stammzellen die unterschiedlichen Zelltypen des Gehirns ausbilden und dass diese Zellen sich in überraschend exakter und präziser Weise so organisieren wie im embryonalen Gehirn. Durch ein spezielles Kulturverfahren gelang es, die frühen Entwicklungsstadien des Großhirns aber auch anderer Gehirnstrukturen, wie dem Hippokampus, nachzubilden, wenn auch nur bis zur Erbsengröße von ca. drei bis vier Millimeter. Da iPS Zellen auch aus Patienten mit Gendefekten erzeugt werden können, erlauben diese Arbeiten dem Institut zufolge erstmals, menschliche Erbkrankheiten in einer Organkultur zu untersuchen. Die Forscher gewinnen damit wichtige Einblicke in die entscheidenden Prozesse der menschlichen Gehirnentwicklung und konnten untersuchen, wie Erbkrankheiten diese Prozesse stören.

J. Knoblich, IMBA"Wie unsere Ergebnisse zeigen, haben menschliche Stammzellen bemerkenswerte Fähigkeiten sich selbst zu organisieren. Die Zellen bilden, wenn man sie sozusagen sich selbst überlässt, überraschend komplexe Strukturen aus, anhand derer man auch die Aktivität der Nervenzellen und die Kommunikation zwischen den Zellen studieren kann. So ist es anderen Forschern bereits gelungen darm-, oder netzhautähnliche Strukturen nachzubilden", erläuterte Jürgen Knoblich, Letztautor der Studie. "Derartige Modelle haben sehr großes Potenzial für die Erforschung von Krankheiten und Entwicklung von Medikamenten."

Bedeutung für die Erforschung von Gehirndefekten und für die Zukunft der Stammzellforschung

Die Forscher haben dem Bericht zufolge nicht nur gehirnähnliche Organoide gezüchtet, sondern diese auch bereits als Modelle für die Nachbildung von Gehirndefekten genutzt. Dabei stehen so genannte Mikrozephalien im Vordergrund. Aufgrund eines Defekts in frühen Phasen der Gehirnentwicklung gehe diese Erkrankung in der Regel mit geistigen Behinderungen wegen eines deutlich zu kleinen Gehirns einher. In ihren früheren Arbeiten konnten die IMBA-Wissenschafter nach eigenem Bekunden bereits zeigen, dass es in diesen jungen Stadien der Gehirnentwicklung auf die Richtung ankommt, in der sich die Zellen teilen. Denn der ungehinderte Nachschub von Neuronen aus dem Stammzell-Reservoir und ihre korrekte Positionierung am Bestimmungsort in der Hirnrinde sind wesentliche Voraussetzungen für die Gehirnentwicklung. Mikrozephalien seien zwar bereits im Mausmodell erforscht worden, jedoch führten dieselben Gendefekte in diesem Fall nicht zu denselben Krankheitsbildern wie im Menschen.

"Mit Hilfe unseres neu entwickelten Systems konnten wir Mikrozephalien aus menschlichen Stammzellen erfolgreich in der Kultur nachstellen. In Zukunft möchten wir auch andere Krankheiten, die mit entwicklungsbiologischen Störungen des Gehirns in Zusammenhang stehen könnten - etwa Autismus oder Schizophrenie - in der Kultur nachbauen und erforschen", fasste Knoblich das Potenzial seiner Ergebnisse zusammen.

Das neue 3D-Kultursystem habe nach Einschätzung der Forscher eine große Bedeutung für die Zukunft der Stammzellforschung: Zum einen werde dadurch die Zahl der Tierversuche verringert, und zum anderen sei es nun möglich, die Ergebnisse dieser Versuche besser auf den Menschen zu übertragen. "Der entscheidende Vorteil des neuen Systems sind optimierte Kulturbedingungen, welche die Übereinstimmung zwischen Kultur und tatsächlicher Gehirnentwicklung entscheidend verbessert haben", erläuterte Madeline Lancaster, Erstautorin der Studie und Post-Doc bei Jürgen Knoblich. "Nach acht bis zehn Tagen entsteht in der Kultur neuronales Gewebe, nach 20 bis 30 Tagen haben sich die Zellen zu unterschiedlichen Hirnregionen weiterentwickelt. Im Durchschnitt können die Gehirn-Organoide die Entstehung von Gehirnstrukturen bis in die neunte Schwangerschaftswoche imitieren", so Lancaster. Da in späteren Phasen die Sauerstoffversorgung durch die Blutbahn erfolgt, wurde zu diesem Zeitpunkt das Limit der Modelle erreicht, denn größere Strukturen würden nicht mehr ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Blutgefäße konnten in den Modellen noch nicht nachgebildet werden.

Die Nachbildung menschlicher Gehirnstrukturen in Kultursystemen könnte laut IMBA in Zukunft auch in der pharmazeutischen und chemischen Industrie von Bedeutung sein. So ermöglichen die Kulturen etwa die Testung von Medikamenten gegen Gehirndefekte und andere neurologische Erkrankungen und erlauben, die Auswirkungen von Chemikalien auf frühe Stadien der Gehirnentwicklung zu untersuchen.

Reaktionen auf die Forschungsergebnisse

Der Stammzellenforscher Oliver Brüstle von der Universität Bonn trat etwaigen Spekulationen entgegen und betonte in einem weiteren Beitrag für "Nature", die Herstellung eines "Gehirns in der Petrischale" bleibe ungeachtet der Ergebnisse weiter "außer Reichweite". So seien innerhalb der Organoide die verschiedenen Hirnbereiche zufällig verteilt und besäßen zudem nicht dieselbe Form und räumliche Organisation wie im Gehirn.

Der Vorsitzende der "Ärzte für das Leben", der Laborarzt Professor Paul Cullen aus Münster, kritisierte laut einem Bericht des katholischen Nachrichtenportals kath.net gegenüber der Nachrichtenagentur idea eine "propagandistische Ausschlachtung" des Themas in den Medien. Er stellte klar, dass es bei dem Forschungsprojekt nicht um die Erschaffung eines vollständigen Gehirns gehe sondern um die Erforschung von Krankheiten mittels einer Art Gewebemodell. Sofern dies mit Hilfe adulter, d.h. erwachsener Stammzellen geschehe, sei dies grundsätzlich sinnvoll. "Höchst problematisch" sei es jedoch, dass für dieses Forschungsprojekt auch embryonale Stammzellen verwendet und damit Embryonen, d.h. Menschen im frühesten Stadium, getötet worden seien. Das sei "ethisch nicht vertretbar", so Cullen. Mehr dazu im kath.net-Bericht "Bioethik: Wird der Mensch zum Schöpfer eines Gehirns?".
 

Weiterführende Informationen:

Presseschau

In den Medien sorgten die Forschungsergebnisse für großes Aufsehen. Nachfolgend finden Sie eine Auswahl an Berichten, Kommentaren und Pressemitteilungen.

Organ-Vorstufe aus der Petrischale: Erbsenhirne aus dem Labor
TAGESSPIEGEL 29.08.13

Forscher züchten Hirn
Aus Stammzellen wuchs im Labor ein erbsengroßes Gehirn. Die Entwicklung entspricht neun Wochen Schwangerschaft
Von Shari Langemak
DIE WELT 29.08.13

Erbsengroßes Gehirn aus dem Labor
Menschliches Nervensystem wächst im Bioreaktor
Von Michael Lange
DEUTSCHLANDFUNK 29.08.13

„Zerebrale Organoide“: Was macht man mit so wenig Hirn?
FAZ.NET 29.08.13

Menschliches "Mini-Gehirn" im Labor gezüchtet
Wien – Österreichische Forscher haben in einem Bioreaktor aus menschlichen Stamm­zellen ein zerebrales Organoid von der Größe einer Erbse gezüchtet, das die ersten Entwicklungsphasen des menschlichen Gehirns durchlaufen hat.
AERZTEBLATT.DE 29.08.13

Forschungsteam um Prof. Dr. Michael Wissert präsentierte in Berlin Ergebnisse des Projektes „TrauErLeben“
Befragung von 680 trauernden Menschen: Trauerbegleitung kann Wege „zurück ins Leben“ ebnen // Forschungsteam Prof. Dr. Michael Wissert präsentierte in Berlin Ergebnisse des Projektes „TrauErLeben“
PRESSEMITTEILUNG Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e.V. 28.08.13

Menschliche Stammzellen: Forscher züchten Gehirn-Knospen
SPIEGEL Online 28.08.13

Wiener Forscher züchten "Mini-Hirne"
Weltweites Interesse an "Organoiden" aus Stammzellen.
KURIER.AT 28.08.13

Das Gehirn aus der Retorte: Forscher züchten Mini-Gehirn aus Stammzellen
FOCUS-Online 28.08.13

Gehirnmodell aus der Organkultur
Erstmals gelang es Forschern in einer Organkultur frühe Stadien der menschlichen Gehirnentwicklung nachzubilden
PRESSEMITTEILUNG IMBA Institut für Molekulare Biotechnologie 28.08.13

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